Die Federn oder warum Sicherheit ein Trugschluss ist

4 min
24.03.2023 14:45:47

Aufgewacht: Kurze Stories für die großen Aha-Momente

Dädalus aus Athen war als Baumeister und Bildhauer der geschickteste Mann seiner Zeit. In den verschiedensten Gegenden der Welt wurden seine Werke bewundert.

Aber so kunstreich Dädalus war, so eitel und eifersüchtig war er auch.

Diese Untugend verführte ihn zum Verbrechen und trieb ihn ins Elend. Er hatte einen Schwestersohn namens Talos, den er in seinen eigenen Künsten unterrichtete. Dädalus fing an zu befürchten, der Name des Schülers möge größer werden als der des Meisters. Der Neid übermannte ihn, und er brachte den Knaben hinterlistig um, indem er ihn von Athenes Burg herabstürzte.

Während Dädalus mit seinem Begräbnisse beschäftigt war, wurde er überrascht. Vor dem Gericht befand man ihn wegen Mordes schuldig. Er entfloh auf die Insel Kreta. Hier fand er bei dem König Minos eine Freistätte, ward dessen Freund und als berühmter Künstler hoch angesehen. Nach einiger Zeit wurde dem Dädalus die Verbannung aus der geliebten Heimat jedoch zur Last. Der Gedanke daran, ein Leben lang bei dem tyrannischen und misstrauischen König auf einem Eiland zubringen zu sollen, quälte ihn.

Sein erfinderischer Geist sann auf Rettung. Nachdem er lange gebrütet hatte, kam ihm die Idee, über die Luft davonzugehen. Gedacht, getan. Dädalus fing an, Vogelfedern von verschiedener Größe so nebeneinander zu legen, dass er mit der kleinsten begann und zu der kürzeren Feder stets eine längere fügte. Diese Federn verknüpfte er in der Mitte mit Leinfäden und unten mit Wachs, sodass sie ganz das Aussehen von Flügeln bekamen.

Dädalus hatte einen Knaben namens Ikarus. Dieser stand neben ihm und mischte seine kindischen Hände neugierig unter die Arbeit des Vaters. Er griff nach dem Gefieder und knetete das gelbe Wachs. Der Vater ließ es sorglos geschehen und lächelte über die unbeholfenen Bemühungen seines Kindes. Nachdem er die letzte Hand an seine Arbeit gelegt hatte, passte sich Dädalus selbst die Flügel an den Leib, setzte sich mit ihnen ins Gleichgewicht und schwebte leicht wie ein Vogel empor in die Lüfte.

Als er sich wieder zu Boden gesenkt hatte, belehrte er seinen jungen Sohn Ikarus, für den ein kleineres Flügelpaar bereit lag. „Flieg immer, lieber Sohn“, sprach Dädalus, „auf der Mittelstraße, damit das Gefieder nicht das Meerwasser streift und von Feuchtigkeit beschwert dich in die Tiefe der Wogen hinabzieht. Aber auch nicht zu hoch in die Lüfte, damit dein Gefieder den Sonnenstrahlen nicht zu nahe kommt und plötzlich Feuer fängt. Zwischen Wasser und Sonne fliege dahin, immer nur meinem Pfade durch die Luft folgend.“

Unter solchen Ermahnungen knüpfte Dädalus seinem Sohn das Flügelpaar an die Schultern, bevor sich beide mit ihren Flügeln in die Lüfte erhoben. Der Vater flog voraus, sorgenvoll wie ein Vogel, der seine zarte Brut zum ersten Mal aus dem Neste in die Luft begleitet. Doch schwang er besonnen und kunstvoll das Gefieder, damit der Sohn es ihm nachtun lernte, und blickte von Zeit zu Zeit rückwärts, um zu sehen, wie es diesem gelänge. Anfangs ging es ganz gut. Bald war ihnen die Insel Samos zur Linken, bald Delos und Paros überflogen.

Noch mehrere Küsten sahen sie schwinden, als der Knabe Ikarus, durch den glücklichen Flug zuversichtlich gemacht, seinen väterlichen Führer verließ und in verwegenem Übermute mit seinem Flügelpaar einer höheren Zone zusteuerte. Die gedrohte Strafe blieb nicht aus. Die Nachbarschaft der Sonne erweichte mit allzukräftigen Strahlen das Wachs, das die Federn zusammenhielt, und ehe es Ikarus bemerkte, waren die Flügel aufgelöst und zu beiden Seiten den Schultern entsunken. Noch ruderte der unglückliche Jüngling und schwang seine nackten Arme, bekam aber keine Luft zu fassen.

Er stürzte in die Tiefe und bevor er den Namen seines Vaters als Hilferuf schreien konnte, hatte ihn die blaue Meeresflut verschlungen.

Die Sicherheitszone

Ikarus bezahlte mit seinem Leben dafür, dass er nicht auf seinen Vater gehört hat. Diese Sage aus der griechischen Mythologie wird oft erzählt, um uns vor Übermut zu warnen. Wage dich ja nicht zu nahe an die Sonne, aber begnüge dich auch nicht mit zu wenig. Bleibe immer schön in der Sicherheitszone, dann kann dir nichts Schlimmes passieren. Diese Botschaft hören wir so oder so ähnlich immer wieder.

Meist kommt sie verkleidet als gut gemeinter Ratschlag: Sorge für das Alter vor, kaufe ein Haus und arbeite für einen großen Konzern, lauten die Empfehlungen, die wir uns bewusst oder unbewusst gegenseitig geben. Ähnlich ist es mit Sprichwörtern, die du sicher kennst: „Übermut tut selten gut“ oder „Lieber den Spatzen in der Hand, als die Taube auf dem Dach“.

Genau wie in der Sage von Ikarus sagen uns diese, dass wir lieber einen sicheren Weg wählen sollten als etwas zu riskieren. Solche Ratschläge werden oft dahingesagt, ohne sich der Bedeutung bewusst zu sein. Manchmal werden sie aus Gründen der Fürsorge gegeben, manchmal auch, um freies Denken und Selbstbestimmung zu unterbinden.

Anspruchslose und gehorsame Völker, Kinder oder Lebenspartner lassen sich schließlich viel einfacher kontrollieren. Der junge Ikarus wäre vielleicht nicht ins Wasser gestürzt, wenn er die Anweisungen seines Vaters befolgt hätte und immer schön in der sicheren Zone geblieben wäre. Er hat seiner Neugier nachgegeben, die ihm zum Verhängnis wurde.  

Die modernen Gefahren

Heute dürfen wir neugierig sein, ohne uns dabei in tödliche Gefahren zu begeben.

Wenn du mich fragst, müssen wir das sogar. Das Leben in der vermeintlich sicheren Komfortzone, in der sich lediglich bekannte Abläufe wiederholen, birgt viel mehr Risiken wie Burnout, Boreout, Depressionen und eine schleichende allgemeine Unzufriedenheit.

Frage dich, was es für Konsequenzen hat, wenn du in dieser vermeintlichen Sicherheit bleibst? Wie hoch sind die Kosten für deine Gesundheit, deine Beziehungen und dein Wohlbefinden? Niemand von uns wird auf dem Sterbebett liegen und sagen „man, war das eine tolle Karriere und gut, dass ich mein Geld immer so sicher angelegt habe“. Was Sterbende am meisten bereuen, ist, dass sie nicht den Mut hatten, ihr eigenes Leben zu leben. Dass sie zu viel gearbeit und viel zu wenig auf ihr Gefühl gehört haben. Damit es am Ende des Lebens für uns gepasst hat, müssen wir immer wieder mal einen Schritt raus aus der Komfortzone machen. Damit meine ich, dass wir etwas machen, das unangenehm ist oder sogar peinlich werden könnte. Etwas, vor dem wir Angst haben, weil es mit einem Risiko behaftet ist.

Genau in diesem unsicheren Raum entwickeln wir uns weiter und finden Chancen für positive Veränderungen.

Ich würde dich gerne anstiften dazu, nicht immer so vernünftig sein zu wollen, sondern viel öfter auf dein Gefühl zu hören. Was würdest du machen, wenn Geld keine Rolle spielen würde? Wenn dir die Erwartungen von anderen Menschen egal wären? Wenn du keine Angst hättest?