Der Teufelskreis, den wir Fortschritt nennen

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24.03.2023 14:45:47

Vor Ackerbau und Viehzucht waren Menschen nomadisch in kleinen Verbänden unterwegs. Ein paar Stunden am Tag sammelten sie Beeren und jagten Tiere. Niemand verdiente Geld, mähte Rasen, las Post oder postete Selfies. Reichlich Zeit für gesellschaftliche Aktivitäten und Müßiggang.

Die Agrarrevolution versprach, das Leben zu erleichtern und Überfluss zu schaffen. Die Menge an produzierter Nahrung erhöhte sich, wurde aber bald darauf unfair verteilt. Es fand eine Aufteilung von Arbeit und Kapital statt. Die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer. Mit der Felderwirtschaft begannen die Menschen, an festen Orten zu siedeln. Bauern hatten plötzlich Eigentum, das sie unterhielten und beschützten. Der Arbeitstag wurde deutlich länger als jener der Jäger und Sammler. Die Ernährung verschlechterte sich. Mit zunehmendem Besitz und der Einführung von Steuern vergrößerten sich mit jeder Generation die Sorgen. Dank der Errungenschaften konnten mehr Menschen am Leben erhalten werden, wenn auch unter schlechteren Bedingungen. Die Fantasie hat Mythen entstehen lassen, die das Zusammenleben in komplexen Gemeinschaften ermöglichte. Feste Siedlungen entstanden. Die Bevölkerungszahlen explodierten. Privilegierte sicherten sich durch Verwaltungsapparate die Herrschaft über die Völker. Die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer. Das große Versprechen der Eltern an ihren Nachwuchs lautete immer fortwährender Wachstum. Wir arbeiten hart, damit es euch in Zukunft besser geht. Sollte der gemeine Pöbel dann doch rebellieren und sich seiner Macht bewusst werden, hielten sie Brot und Spiele bei Laune. Die große Befreiung kam mit der Industrialisierung. Die zuvor selbständigen Handwerker und Bauern wurden in Fabriken gelockt. Die 12-Stunden-Tage auf dem Feld tauschten sie gegen Bandarbeit. Mit dem hart verdienten Geld kauften sie Lebensmittel, die sie vorher selbst produzierten. Die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer. Diese Darstellung ist weder eine wissenschaftliche Abhandlung, noch soll sie Meinungsmache sein. Es ist die Vergangenheit, wie ich sie sehe. Sie hat uns Wohlstand ermöglicht, für den wir einen hohen Preis zahlen. Das Versprechen an die nächste Generation lautet dennoch unverändert: wir arbeiten hart, damit es euch in Zukunft besser geht. War früher alles besser? Oder doch nicht?  

War früher alles besser?

Heute haben wir Hymnen, Flaggen, Sprachen und gemeinsame Historien. Sie sorgen dafür, dass wir uns einer Nation zugehörig fühlen. Warum beschützen wir erdachte Grenzen eines Staates von Millionen Menschen, die wir nicht kennen? Heute sind wir befreit von barbarischen Kriegen, Hexenverbrennung und unwürdigen Arbeitsbedingungen. Wir haben eine ausgeklügelte soziale Marktwirtschaft gebaut. Sie versorgt uns mit Arbeit, Geld, Nahrung, Unterhaltung und Liebe. Der Staat sorgt für Sicherheit, zahlt Krankengeld, baut Straßen und Altersheime. Vermehrt das unser Glück oder schränkt es uns ein? Heute liegen Kreuzzüge, Sklaverei und Kolonialisierung hinter uns. Nicht mehr Könige sind Schuld, wenn Millionen durch Mangel an sauberem Trinkwasser sterben, sondern Nestlé. Die Menschenwürde wird durch Entwicklungskredite und das globale Wirtschaftssystem geschützt. Oder sind das lediglich elegantere Formen der Unterdrückung? Heute lenken nicht mehr ungerechte Anarchisten das Geschehen der Welt. Es gibt demokratisch gewählte Vertreter des Volkes, die unsere Interessen vertreten. Diese fiktiven Instanzen entscheiden darüber, wie sich unser Zusammenleben gestaltet. Oder sind es doch die Rüstungskonzerne, Pharmaindustrie und Aktienmärkte? Heute glauben wir nicht mehr an Mythen und Götter. Unsere Realität besteht aus Staatsgrenzen, Geld, Gesetzen und der unsichtbaren Hand des Marktes. Vertrauen haben wir in Körperschaften und politische Systeme. Warum werden diese Überzeugungen mit Nationalismus und Diskriminierung verteidigt? Heute suchen wir das Glück nicht bei Orakeln, Göttern oder in der Natur, sondern in Statussymbolen, Diäten und Modetrends. Sinnhaftigkeit wird bei Schönheitschirurgen, Immobilienmaklern und Dating-Plattformen gefunden. Ist Glückseligkeit etwas, das wir uns leisten können? Heute leiden wir keinen Mangel mehr. Das Überangebot führt zu Völlerei, Neid und Hochmut. Die Erde wird ausgebeutet, um alles überall verfügbar zu machen. Unterdrückt die Gier nach Wohlstand den Gedanken an Morgen? Heute stirbt fast niemand mehr an Kinderlähmung, Cholera und Pest. Wir haben uns neue Krankheiten geschaffen. Die Lebensmittelindustrie spielt für einen kleinen Profit mit unserer Gesundheit. Pharmakonzerne schieben mit einem Lächeln die passenden Arzneien hinterher. Wer profitiert noch von diesem Wahnsinn? Heute wird die Masse nicht mehr bei blutigen Gladiatorenkämpfen in Arenen betäubt. Dafür gibt es Katzenvideos, Flachbildschirme und Drogen. Müßiggang wird als Faulheit bezeichnet. Die Bequemlichkeiten des Lebens hindern uns am Zwiegespräch mit unserem Selbst. Sollten wir nach Glückseligkeit nicht im Inneren suchen, anstatt es als Eso-Quatsch abzutun? Heute haben wir Gewerkschaften und die 40-Stunden-Woche. Der Werbeindustrie bleibt ausreichend Zeit, neue Bedürfnisse nach Geschmäckern, Gefühlen und Erlebnissen zu schaffen. Die Beschäftigten, die dich nicht verkaufen, produzieren Lebensmittel, Kleidung und Gadgets, um die imaginären Sehnsüchte zu erfüllen. Haben wir nicht viel zu viele Jobs, die kein Mensch braucht? Heute manipulieren uns nicht mehr schwungvolle Reden mit Pathos, sondern dumpfe Werbebotschaften wie Geiz ist Geil. Wir müssen nicht mehr selbst wissen, was wir wollen. Google und Facebook diktieren unsere Bedürfnisse. Wie kann es sein, dass wir verbundener und gleichzeitig einsamer sind, als je zuvor? Heute haben wir Wochenenden und Urlaubsregelungen. Thank God it‘s Friday, höchste Zeit, sich etwas zu gönnen. Das materielle Ego erfährt eine kurzfristige Befriedigung. Bald schon reichen das neue Auto, die Spielkonsole und der Partner nicht mehr aus. Schneller, höher, weiter endet in zusätzlicher Arbeit. Mehr verdienen, um mehr zu konsumieren. Gefangen in einem perfekten Teufelskreis, der keinen Raum zum Nachdenken lässt. Es sind provokative Fragen. Sie lassen mich nachdenken. Ich frage mich, wie wir uns am Wohlstand erfreuen können, wenn wir einen so hohen Preis dafür bezahlen. Wir schauen zurück und feiern uns für Erfolge. In meiner Wahrnehmung haben wir in vielerlei Hinsicht Rückschritte gemacht. Rückschritte, die sich als Fortschritte verkleiden.  

Morgen wird alles gut

Wie wohl unsere Nachkommen in ein paar Hundert Jahren über uns urteilen? Werden sie sagen, dass „früher alles besser war“? Oder den Kopf schütteln, wenn sie in Geschichtsbüchern von unserer fremdgesteuerten Lebensweise lesen? Rein rational betrachtet haben wir als Menschheit viel erreicht. Krankheiten wurden bekämpft, wir sind ins All geflogen und spalten Atome. Gleichzeitig haben wir es in kürzester Zeit geschafft, die Erde überzubesiedeln, komplette Tiergattungen auszurotten und Löcher in die Ozonschicht zu blasen. Was bleibt von diesen Errungenschaften für den einzelnen Menschen? Haben wir uns als Spezies weiterentwickelt oder sind einen Schritt zurückgegangen? Was bleibt, wenn wir die Geschichten, die wir uns tagtäglich erzählen, außen vorlassen? Wie in Platons Höhlengleichnis halten wir eine Schattenwelt für die Realität, aus der es kein Entkommen zu geben scheint. Andere Sichtweisen können wir nicht akzeptieren, da es unser Weltbild zum Einstürzen bringen würde. Es erscheint so, als wenn wir gefangen sind in einem System, das wir selbst erbaut haben. Die Sklaven unserer eigenen Werkzeuge. Viele sehen nur die Fiktion, sind aber blind gegenüber dem echten Leben. Sie verteidigen Demokratien, Wirtschaftssysteme und Konzerne, als wenn es sie wirklich gibt. All diese Dinge sind nicht real. Sie sind menschgemacht und existieren nur in unserer Vorstellung. Sie werden dann real, wenn wir ihnen Glauben schenken. Wenn wir kritisch auf den Geldschein in unserer Hosentasche oder auf die gesammelten Rentenpunkte schauen, dann wird uns das bewusst. Dann erkennen wir, dass diese Sachen nur eine Bedeutung haben, weil genügend Menschen von dessen Bedeutsamkeit überzeugt sind. Das Drama dabei ist, dass wir das Reale mit dem Fiktiven aufwiegen und am Ende meist die Fiktion gewinnt. Wir haben eine Welt gebaut, in der wir den Schutz der Erde mit Geld abwägen, Konzernprofite wichtiger sind als Menschenleben und Werte niederen Gelüsten unterliegen. Unsere Vorfahren in der Höhle lebten ohne diese „Fortschritte“. Sie kannten auch nicht die Langeweile, Bedürfnisse und Probleme, die wir uns in den vergangenen Jahrtausenden geschaffen haben. Ob sie wohl weniger glücklich waren? Das Leben, das wir heute führen, gewinnt ständig an Tempo. Die Zyklen, mit denen uns neue Technologien eine bessere Zukunft versprechen, dauern nicht mehr Jahrhunderte, sondern nur noch Jahre. Wir halten nicht mehr Schritt, befeuern aber dennoch munter weiter den Teufelskreis. Dabei liegt die rote Pille, um der Matrix zu entfliehen, in unseren Händen. Den Ausgang finden wir, indem wir die uns erzählten Geschichten hinterfragen. Wie die Höhlenmenschen von Platon könnten wir uns einfach umdrehen und gehen.

Warum aber fällt uns der Abschied aus dem Teufelskreis, den wir für Fortschritt nennen, so schwer?